Die Magie der Akronyme. Teil 3: CAREFUL

In den ersten beiden Teilen dieser Serie habe ich über zwei gut etablierte und weit verbreitete Sammlungen von Prinzipien zum zeitgemäßen wissenschaftlichen Arbeiten gesprochen: FAIR und CARE. Ich habe gezeigt, wie ihre Verdichtung auf ein Akronym, das einem positiv belegten und inhaltlich ähnlichen „richtigen“ Wort gleicht, ihre Akzeptanz und Verbreitung positiv beeinflusst, und wie die subversive Wirkung des Reims dazu beiträgt, dass CARE sich an die Akzeptanz von FAIR anlehnen kann.

Nun würde ich gerne einmal ausprobieren, ob ich das Erfolgsrezept von FAIR und CARE reproduzieren kann…
Denn all meine Überlegungen zur Sprachmagie der Akronyme begannen damit, dass ich auf der Suche nach einem Schlagwort war, einer zur ausbuchstabierten Eselsbrücke verdichteten Prinzipiensammlung, die den notwendigen wissenschaftlichen Umgang mit einer konkreten Forschungssituation als Handlungsanweisung zusammenfasst:
Wie behandelt man ideologisch belastete Quellen?

Ich war der festen Überzeugung, dass es die gesuchte Prinzipiensammlung bereits geben müsse. Keiner der darin enthaltenen Arbeitsschritte ist neuartig, ungewöhnlich, spezifisch für eine bestimmte disziplinäre Fachgemeinschaft oder umstritten.
Aber ich fand keine Instanz, in der sie einmal explizit zusammengetragen oder gar unter einem griffigen Namen -als sprechendes Akronym!- publiziert wurden.
Also habe ich die CAREFUL-Prinzipien selbst erstellt (und mit den Data Clues veröffentlicht).[1]

Folie mit den CAREFUL-Prinzipien, die das Akronym auf Englisch auflöst und erklärt. Links die Anfangsbuchstaben, dann ein Icon, dann ein erklärender Text: Titelzeile: Be CAREFUL Untertitel: when dealing with research that may be ideologically compromised Liste: C - Lupe - Contextualization. Place all sources, objects, and data within their proper historical, political, and ideological context. Avoid dehistoricized use. A - gelbes Dreieck mit Ausrufezeichen - Awareness. Be alert to the origins and potential misuse of materials - is it shaped by fascist or racist ideology? R - Händedruck - Responsibility. Take active responsibility for the ethical handling and communication of ideologically sensitive research. E - Waage - Ethics. Apply strict ethical standards - especially when in dealing with human remains, racialized data, or victim narratives. F - Microscope - Factual Rigor. Maintain scholarly integrity; examine biased assumptions or inherited classifications critically. U - Gehirn - Understanding. Deepen the historical and disciplinary understanding of how academia can be influenced by ideology. L - Herz - Legacy Sensitivity. Acknowledge the lasting impact of research materials on individuals, communities, and contemporary discourse.
Be CAREFUL when dealing with research that may be ideologically compromised (c) 11.06.2025 by Asta v. Schröder is licensed under CC BY 4.0. To view a copy of this license, visit https://creativecommons.org/licenses/by/4.0

C steht für Contextualization – die historische, politische und ideologische Einbettung von Forschung, Daten, Objekten
A steht für Awareness – das Bewusstsein für die Herkunft, Belastung und Wirkgeschichte der Quellen
R steht für Responsibility – die aktive Übernahme von Verantwortung durch Institutionen und Forschende
E steht für Ethics – die ethische Reflexion im Umgang mit sensiblen Materialien (z. B. menschliche Überreste, rassistische Klassifikationen)

F steht für Factual rigor – die wissenschaftlich saubere, überprüfbare Arbeitsweise nach transparenten Werten
U steht für Understanding – das tiefergehende historische Verständnis von Konzepten und Theorien (z. B. der NS-Forschungslogik in Biopolitik, Rassismus, Anthropologie )
L steht für Legacy sensitivity – die Sensibilität gegenüber den Nachwirkungen der Forschung und dem Leid der Betroffenen sowie ihrer Nachkommen

Engl. careful – vorsichtig, sorgfältig.

Die CAREFUL-Prinzipien sollen die Notwendigkeit für stete wissenschaftliche Sorgfalt und ihre Mittel ins Bewusstsein rufen, und so ethische Wachsamkeit, kritisches Bewusstsein und historische Verantwortung gegenüber ideologisch kompromittierten Quellen gewährleisten.
So wie bei den Eiszeitschnitzereien, die wir in den Data Clues vorgestellt haben: ihrer Entdeckung 1931 verdankte Gustav Riek eine lange akademische Karriere[2][5] und internationale Anerkennung. Aber Vorsicht ist geboten.

Ich möchte an dieser Stelle nicht ausführen, wie insbesondere die prähistorische Forschung von den Nazis vereinnahmt wurde, um ihre „Rassenlehre“ zu legitimieren. Die völkische Tradition von Alfred Rosenbergs „Reichsbund für Vorgeschichte“, deren macht- und kulturpolitische Konkurrenz mit Heinrich Himmlers „SS-Ahnenerbe“ und beider pseudowissenschaftliche Propaganda wird seit den 1970ern untersucht.
Heute ist klar: Jede Forschung aus dieser Zeit könnte ideologisch kontaminiert sein.

Tatsächlich war Gustav Riek seit 1929 Mitglied der NSDAP, seit 1933 in der SA und seit 1937 in der SS. Seit 1941 arbeitete er im SS-Ahnenerbe und im Persönlichen Stab von Himmler. Im Krieg diente er in einem KZ und als Geologe in der Waffen-SS.[3]
Doch in seiner Entnazifizierungsakte wurde ausdrücklich festgehalten, dass er „in der Urgeschichtsforschung mannhaft auf Seiten der wahren Wissenschaft gestanden hatte (gegen die NS-Pseudowissenschaft insbesondere von Reinerth und Rosenberg)…“[4]

Andererseits schilderte er 1934 in einer populärwissenschaftlich-fiktionalisierten Erzählung über seine Funde, „wie die Mammutjäger sich den Lebensraum im Lonetal erst erkämpft und die dort lebenden Neandertalergruppen ausgerottet hatten – eine von der Ideologie der 1930er Jahre geprägte Vorstellung, wofür bis heute jegliche archäologischen Belege fehlen.“[5] Die letzte Neuauflage der Geschichte stammt von 2014 – immerhin mit kritischer Einordnung durch Nicholas Conard und Ewa Dutkiewicz.[6]

Ob Riek ein in der Wolle gefärbter Nazi war oder „nur“ das Kind einer Zeit, in der völkische Vorstellungen von der Überlegenheit des Homo Sapiens und andere sozialdarwinistische Mythen weit verbreitet waren, kann ich nicht abschließend sagen.
Aber die Prüfung der Literatur zu prähistorischen Funden aus der Nazi-Zeit mit Contextualization, Awareness, Responsibility, Ethics, Factual rigor, Understanding und Legacy sensitivity führte mich zu einem differenzierteren Bild von Gustavs Rieks Erbe.

Natürlich beschränkt sich die ideologische Einflussnahme nicht auf Nazi-Deutschland.
Gerade jetzt steht in den USA wissenschaftliche Forschung (z. B. zum Klimawandel oder Impfstoffen) immens unter Druck. Studien zu Geschichte, Rassismus oder Gender werden von oberster Stelle als „woke“ angefeindet.
Nicht nur dann, aber besonders wenn wissenschaftliche Forschung so offensichtlich für politischen oder religiösen Kulturkampf beeinflusst und missbraucht wird, müssen Forschende vorsichtig sein.

[1] von Schröder, Asta, Petersen, Jannis. (June, 2025). „Data Clues“. A material knowledge graph. Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.15804032
[2] Riek, G. (1934). Die Eiszeitjägerstation am Vogelherd im Lontal. Akademische Buchhandlung.
https://zenon.dainst.org/Record/000908841
[3] von Bremen, B. (2020). NS-Akteure in Tübingen. Kurzbiografie Gustav Riek; Geschichtswerkstatt Tübingen e.V. https://www.ns-akteure-in-tuebingen.de/biografien/bildung-forschung/gustav-riek
[4] Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Sigmaringen—Findbuch wü 13 t 2: Staatskommissariat für die politische Säuberung. (1949, November 13). [Personenakten: Riek, Gustav, Prof. Dr.]. http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=6-461265-1
[5] Der abenteuerliche Weg der Vogelherd-Figurinen – von ihrer Auffindung bis heute. (2022, August 2). Kerns Verlag Tübingen. https://kernsverlag.com/de/der-abenteuerliche-weg-der-vogelherd-figurinen-von-ihrer-auffindung-bis-heute/
[6] Riek, G., Conard, N. J., & Dutkiewicz, E. (2014). Die Mammutjäger vom Lonetal. Hess.

WiNoDa plant für das Wintersemester 2025 übrigens eine ganze Webinar-Reihe zum fachgerechten Umgang mit Daten aus sensiblen Kontexten und Datenethik: "Vom Archiv zum Handeln: Ethik für Daten in sensiblen Kontexten". Genauere Informationen folgen.

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Schröder, Dr. Asta von. (2025). Die Magie der Akronyme. Teil 3: CAREFUL. WiNoDa Knowledge Lab. https://winoda.de/2025/10/10/die-magie-der-akronyme-teil-3-careful/ (Accessed on Oktober 23, 2025 at 23:07)
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